Größenwahnsinn

  • von Lukas Mügge
  • 04 Juni, 2019
In der Uni sollte ich den "Ausdruck meiner Geschlechter-Identität" auf einer Skala von weiblich bis männlich einordnen.
Warum ich das unsinnig finde.

Die Mädchen und die Jungen. 

Die Alten und die Jungen.

Die Dicken und die Dünnen,

die Großen und die Kleinen 

und so weiter.

Am Anfang der Grundschule war ich zwar einer der Größten, aber trotzdem noch einer von den Kleinen; die wirklich Großen waren nämlich schon in der 4. Klasse. 

Doch kaum war ich einer von den Großen: Schulwechsel; wieder einer von den Kleinen – aber inzwischen eben doch der mit Abstand Größte im ganzen Jahrgang. 

Und so lernte ich sehr schnell, dass die Körperlänge diejenige meiner Eigenschaften werden sollte, über die mich die Erwachsenen am schnellsten und zuverlässigsten kategorisieren konnten. Was offenbar notwendig war, denn Erwachsene kategorisieren grundsätzlich alles. 

Wer mit 14 Jahren 2,05m groß ist, hat zum Beispiel zwangsläufig Basketball zu spielen. Tut man es nicht, ist der Smalltalk nach der Begrüßung bereits zu Ende – es sei denn, es wird noch eine Nachfrage zur Luftqualität hinterhergeschoben. Das subtilere "Tschuldigung, darf ich mal fragen, wie groß du bist?" trägt immerhin noch seinen Mantel der Höflichkeit, den das grammatisch ausgefallenere und meist hinterhergerufene "Ey, warum so groß?" intelligenzsparend gar nicht erst anlegt.

Ohne das permanente Feedback von außen hätte ich wahrscheinlich gar nicht gemerkt, dass ich wohl wirklich sehr groß sein musste. Es war doch schließlich normal, dass mir die meisten Anderen höchstens bis zur Brust reichten / der Mittelgang im Fernreisebus zwar breit genug für die Toilettenbesuchenden – nicht aber zugleich für meine "langen Gräten" war / dass es im Schuhgeschäft immer nur ein passendes Paar "Elbkähne" oder "Quadratlatschen" oder "Kindersärge" für mich gab und dass jeder genormte Türrahmen zum Limbotanzen einlud!

Gedanken über Geschlechterrollen brauchte ich mir da – zumal als 'männlicher', weißer Heran- und vor allem Hinaufwachsender – eigentlich gar nicht zu machen. …Bis ich ab und zu mit meiner vor-stimmbrüchigen Kinderstimme die Diensttelefonate meiner Mutter entgegennahm, bei denen mich die Gardinenkundschaft zuverlässig entweder für dieselbe hielt oder mich wahlweise als Tochter deklarierte. 

Die ersten Verwechslungen klärte ich noch auf. Doch irgendwann ließ ich die ohnehin nur oberflächlich an unserem Familienleben interessierte Kundschaft in ihrem Irrglauben – und akzeptierte die Fehlzuordnung als ein nicht mich persönlich betreffendes Problem aufseiten meiner Gesprächspartner.

Etwa zur selben Zeit öffnete ich dem Missverständnis zu allem Überfluss auch äußerlich alle Türen: Mit über schulterlangen Haaren und pausbackigen Gesichtszügen war die Uneindeutigkeit meiner Geschlechterzuordnung offenbar perfekt. Fortan wurde ich auch im Angesicht (nicht nur) der Gardinenwaschbegierigen immer häufiger als Tochter identifiziert.

Die Pointe in diesem Geschlechterrollenchaos kam etwa zur selben Zeit per Post von der Sparkasse. Plötzlich war ich nämlich nicht mehr nur Mutter, Tochter, Sohn, Mädchen oder Junge, sondern ganz offiziell auch ein "Herr".  

Viele Optionen für einen pubertierenden Menschen, der der ganzen Kategorisierung allmählich überdrüssig wurde. All das Schubladendenken speiste sich aus den oberflächlichen Eindrücken mir vornehmlich fremder Menschen; denselben Menschen, die mich auf der Straße herausfordernd beäugten, mich auf meine wahrscheinliche Vorliebe, "aus der Regenrinne zu trinken", ansprachen und aus unerfindlichen Gründen den Drang verspürten, mir mitteilen zu müssen, "dass sie immer dachten, sie wären schon groß!".

Auf diese Weise lernte ich, dass ich allein aufgrund meines körperlichen Erscheinungsbildes mein Leben lang und permanent gesellschaftlich eingeübten Unnötigkeiten ausgesetzt sein werde. Ob Haarlänge oder Körpergröße betreffend: Die Abweichung von der Norm wurde zu meiner – identitätsformenden – Normalität. Ich lernte, sie als einen Teil von mir zu akzeptieren, der sich der mehrheitlichen Erfahrungswelt entzieht. Welchen Wert hat schon eine öffentliche Meinung, deren prädominierendes Anliegen sich in fehleranfälligen Vorurteilen und destruktiven Äußerungen erschöpft? 

Die körperliche Unangepasstheit brachte mir früh bei, die wichtigen Stimmen von den beleidigenden, bösen – teilweise schlichtweg dummen – Stimmen zu trennen. Die Diskriminierungen, die ich im öffentlichen Leben jeden Tag durch eine 'größen-normativ' eingerichtete Infrastruktur und deren sozialer Entsprechung erfahre, lehrte mich früh, wie sich eine Abweichung von der Norm anfühlen kann (Stühle und Tische sind zu niedrig, Sitzreihen zu eng, Türrahmen zu klein und passende Kleidungsstücke rar, Hotelbetten zu kurz und Duschköpfe zu weit unten angebracht, im Konzert gibt es keinen Stehplatz für im Weg Stehende, im Theater keinen Sitzplatz für im Weg Sitzende, Unbekannte eröffnen die immergleichen Gespräche und erfinden die immerselben Witze). 

Im Gegenzug begriff ich, jede Person als unkategorisierten Menschen zu betrachten; nicht als kleinen oder großen, als männlichen oder weiblichen, als dunkel- oder hellhäutigen, als dicken oder dünnen, als behinderten oder unbehinderten – eben: als Menschen. Vielleicht bewahrte ich mir eine kindliche Unvoreingenommenheit, bevor sie vom erwachsenen Schubladendenken sortiergerecht portioniert werden konnte; während sich andere auf dem Schulhof rangelten, war ich im Schüler-Café anzutreffen. Während andere ins Fußballstadion pilgerten, griff ich zu Feder und Papier. In der Oberstufe fand ich mich im Theaterprofil wieder, im Wahlpflichtfach Sport entschied ich mich folgerichtig für: Bewegungskünste – 14 Punkte!

Zu keinem Zeitpunkt wäre mir in den Sinn gekommen, meine Interessen auf ein geschlechterspezifisches Vorurteil hin infrage zu stellen. Ich wählte ja nicht bewusst die als 'weilblich' vorverurteilten Interessensdomänen, sondern fand bei Ankunft immer zufällig einen deutlich überwiegenden Frauenanteil vor. Sowohl im Bachelor-Studium Deutsch/Englisch auf Lehramt wie auch im Master Kultur der technisch-wissenschaftlichen Welt begegnete ich demselben Phänomen: Meine Interessen werden (aus welchen möglicherweise strukturell bedingten Gründen auch immer) offenbar vornehmlich von Menschen geteilt, die man – sicherlich stereotypisch voreilig – als 'weiblich' kategorisieren könnte. Doch was sollen diese Beobachtungen mit jener suggestiv erfragten "Geschlechter-Identität" auf dem Fragebogen zu tun haben?

Nach dem Abitur ernährte ich mich zwei Jahre lang konsequent vegan. Dennoch fand ich die Bezeichnung 'Veganer' absurd. Wieso sollte mein selektiver Konsum meine Person definieren? Ich entschied mich aus ethischen und ökologischen Gründen für eine bestimmte Ernährungsweise, so wie sich andere aus politischen und gesellschaftlichen Gründen für die Vermeidung von Privatfernsehen entscheiden. Werden sie damit gleich zu "Öffentlich Rechtelnden"? Und selbst wenn: Hilft das irgendwem weiter?

Noch nie sah ich mich dazu bewogen, meine Identität über die mir völlig unzugängliche Kategorie 'Geschlecht' zu definieren, geschweigedenn verteidigen zu müssen. Das schreibe ich im Bewusstsein, dass es vielen Menschen anders geht. Doch die Idee der geschlechtlichen Selbstkategorisierung empfinde ich so unsinnig wie die Frage nach meiner Lieblingsbasketballmannschaft. Sie betrifft mich nicht. Und sollte es auch nicht. Denn beim Versuch, mich in eine Gender-Schublade zu stecken, müsste ich diese erst einmal aufmachen. So wenig die Körpergröße einer Person etwas über die Person aussagt, tut es meiner Ansicht nach das wie auch immer konstruierte Geschlecht oder die Hautfarbe derselben. Worüber diese Eigenschaften Auskunft geben, sind lediglich die Unterschiede in den zu erwartenden Diskriminierungen einer lauten Öffentlichkeit. Eine Transgenderperson ist nicht in erster Linie transgender, sondern Mensch. Wer sich vegan ernährt, ist nicht in erster Linie Veganer/in, sondern Mensch. 

Es ist wichtig, dass wir unsere Stimmen gemeinsam gegen Missstände laut machen können. Da kommt man um eine (Selbst-)Kategorisierung nicht herum; auch ich wurde auf Demonstrationen zum stolzen Veganer. Aber deshalb kontextungebunden von einer 'Ernährungsidentität' zu sprechen, fände ich unsinnig. Mich selbst möchte ich nicht in Schubladen sortieren müssen; warum sollte ich andere in Schubladen stecken? 

Menschen sind nun einmal 'anders'. Anders als ich, anders als du. Wenn du also das nächste Mal ein 'anderes' Exemplar von Mensch triffst, dann lass es bitte einfach anders sein.